"Ordnung an sich ist ein starres, abgeschlossenes System. Erst der Fehler ermöglicht Kreativität. Die Ordnung jedoch, in Wirklichkeit immer fehlerhaft, bleibt Utopie. Die Erschaffung der Ordnung ist der eigentlich kreative Prozess - die Ordnung selbst verhindert diese."

   
Siegfried Volz (1832 - 1902)
     
     

Warum improvisieren wir?

Improvisation begleitet uns fast permanent und ohne dass wir ausweichen (können), denn fortwährend begegnen wir Umständen, die uns zum Improvisieren zwingen. So stört z.B. jedes wirkliche Gespräch die Ruhe eigener Standpunkte und führt uns in Situationen, in denen wir unsere Reaktionen und den weiteren Verlauf nur noch beschränkt oder gar nicht mehr vorhersehen können. Auch Handlungsabläufe im Alltag verlangen uns immer wieder Entscheide ab, für die zu wenig Zeit zum Planen besteht und die spontan fallen müssen. Das Gefahrenpotenzial der dabei einzugehenden Risiken bleibt jedoch meistens überschaubar und damit in einem mehr oder weniger kalkulierbaren Rahmen, denn Erfahrung und ein von allen normalerweise eingehaltener Katalog von Kommunikations- und Verhaltensregeln bieten Sicherheit. Doch, trotz dieser „Leitplanken“ birgt jedes Improvisieren naturgemäss Risiken.

Was bewegt nun Menschen dazu, zumal in unserer auf Sicherheit versessenen Zeit, freiwillig zu improvisieren? Öffnen sich beim Improvisieren Räume, die planmässigem Tun verschlossen bleiben? Hat Improvisation mit Freiheit (innerer, äusserer) zu tun? und damit vielleicht auch mit Subversion? – Improvisieren als Ausüben von Freiheit, gar als Lebensentwurf? Improvisieren als Disziplin auf dem Weg zur Eigenständigkeit? Was ist die Funktion von Regeln? Wie weit können wir auf solche verzichten? Ist Improvisieren ohne Regeln ein Hochseilakt ohne Netz oder verankern wir uns vielleicht lediglich an anderen Orten, verlagern sozusagen die Haltepunkte?

     

Die folgenden 10 Punkte sind ein Versuch, stichwortartig ein paar Ebenen zu fassen, die für die freie musikalische Improvisation typisch sind oder die die Improvisation „besser kann“ als geplantes Tun. Darüber hinaus sind es aber auch Aspekte, die von allge-meinem, über die Musik hinausgehendem Interesse sind und die aufzeigen, wo Improvisation ihre besonderen Stärken hat. Die meisten dieser Aspekte hängen untereinander eng zusammen und sie ergeben sich zum Teil sogar einer aus dem andern. Über sie auch gesondert nachzudenken, macht wegen der dabei schärfer zu Tage tretenden Bedeutung der einzelnen Aspekte aber gleichwohl Sinn.

     

Zehn Aspekte der Improvisation

1

Kommunikation
Gemeinsames Improvisieren ist eine modellhafte Kommunikationsform, denn:
  - Alle Beteiligten agieren im Interesse einer gemeinsamen Sache, die nicht von aussen gesteuert ist. Die zu geltenden Regeln werden von den Beteiligten abgesprochen und gemeinsam bestimmt.
  - Das gemeinsame optimale Ergebnis steht im Zentrum des Tuns (nicht Wettbewerb oder irgendwelche Vorteile Einzelner vor Andern).
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Besonders wichtig sind dabei die Interaktion, das Einbeziehen der Beiträge der Andern (Agieren – Reagieren) und die grösstmögliche Klarheit meiner Aussagen. – Einerseits konzentriert und genau zuhören, anderseits klare Voten abgeben.

   

2

Freiheit - Verantwortung

Die Verbindung eines hohen Masses an Freiheit mit dem freiwilligen Übernehmen von Verantwortung.

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Beim Freien Improvisieren ist die Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von Fremdbestimmung total,

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doch ohne das gleichzeitige Übernehmen von Verantwortung durch alle Beteiligten ist das gemeinsame Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Das bedeutet auch:

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Falls sich einer der Mitspieler „versteigt“ oder verspekuliert, muss jeder Beteiligte im Interesse des Stückes das ihm Mögliche tun, um „dem An-dern aus der Patsche zu helfen“ bzw. das Stück zu retten.

   

3

Risikobereitschaft

Das Treffen klarer Entscheide und das Übernehmen der daraus resultierenden Konsequenzen in einem offenen, ephemeren Prozess.

  - Risikobereitschaft ist ein zentral wichtiger, unverzichtbarer Energielieferant.
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Für die Richtigkeit und das Gelingen von Entscheiden gibt es beim Improvisieren keine Garantie; doch Sicherheitsdenken führt zu langweiligen Resultaten.

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Das einzige „Sicherheitsnetz“, auf das man beim gemeinsamen Improvisieren zählen kann, ist die Gewissheit, dass alle Beteiligten ausschliesslich im Interesse der entstehenden Musik agieren.

   

4

Handlungsfähigkeit
In nicht eingeübten und nicht vorhersehbaren Situationen Handlungsfähigkeit erlangen und erhalten. Voraussetzungen dafür sind:

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Möglichst gute Kenntnis des mir zur Verfügung stehenden „bautechnischen“ Materials, dazu gehören unter anderem:

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Die Fähigkeit, die gewählten Mittel zu handhaben (instrumentale Technik); Materialkenntnis (was enthält es für Potenzial, wie flexibel, transformierbar ist es); wie reaktionsschnell, flexibel bin ich (grundsätzlich und in der aktuellen Situation); erkennen, was getan werden muss, damit meine Intentionen klar und unmissverständlich sind.

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Klare Entscheide treffen, deren Konsequenzen tragen und trotzdem in aktiver Bewegung bleiben können.

   

5

Orientierungsfähigkeit
Sich innerhalb nicht vorbestimmter und nicht vorhersehbarer Verläufe und Prozesse orientieren können und die formale Übersicht behalten.

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Dafür muss jeder der Mitspieler jederzeit auf dem aktuellen Stand des entstehenden Stückes sein, ob er im Moment nun spielt oder pausiert. Das bedeutet, dass man:

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Nicht vergisst, was musikalisch bis jetzt geschehen ist (materialmässig, formal, energetisch, …). Das betrifft meine Aktionen und die der andern.

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Abschätzen kann, was und mit welcher Wahrscheinlichkeit, noch kommen könnte.

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Die Bereitschaft dazu hat, sich immer wieder neu zu orientieren.

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Formales Bewusstsein hat; – dies auch dann, wenn keine geschlossene Form entstehen soll.

     
6 Energieverwaltung
In einem Prozess, dessen Dauer und Verlauf nicht vorhersehbar sind.
  -

Die anfängliche musikalische Energie bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für Spannungsbögen und das Entstehen von Qualität beim Improvisieren (und generell beim Musizieren).

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Jeder Energieabbau bedeutet in der Regel auch Spannungsverlust. - Mentale Kontrolle und energetisches, strukturelles, formales Bewusstsein helfen verhindern, dass man die zur Verfügung stehende Energie zu schnell verbraucht (das Pulver zu schnell verschiesst).

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Intensitäts- und Energieverwaltung im Moment und im Hinblick auf das Ganze.

     

7

Intensität - Komplexität
Die Verbindung von fokussierter Intensität und Energie mit dem Schaffen und Verwalten von Komplexität ist eine besondere Herausforderung:

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Innerer Reichtum von Musik entsteht durch die Vielfalt von Beziehungen ihrer verschiedenen Ebenen, – in sich und untereinander. Ohne wache mentale Kontrolle kann diese Komplexität weder entstehen, noch verwaltet werden.

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Die das musikalische Geschehen begleitenden und verwaltenden Gedanken dürfen jedoch nie in das energetische Feld der Musik eindringen, bzw. den Energiefluss stören, da in diesem Fall die Verbindung zur Spannungsebene abbricht und die Musik ihre Intensität verliert.

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Auch in hochkomplexen strukturellen und formalen Situationen und Prozessen sollten die entscheidenden Massnahmen zwar hellwach und bewusst, doch auf intuitive Weise getroffen werden.

     

8

Gesetzmässigkeiten, Klischee
Teilhabe und direkte Einsicht in die Gesetzmässigkeiten von strukturellen und formalen Prozessen.

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Musikalische Prozesse (Formen, Entwicklungen, Spannungsverläufe, Zusammenhänge) unterliegen einer Reihe ganz unterschiedlicher und teilweise unumgänglicher Gesetzmässigkeiten.

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Manche davon sind archetypisch und haben entweder energetische Gründe (Spannung - Entspannung) oder sie sind als Basis für Kommunikation und Verstehen ganz generell unerlässlich. – Viele Klischees in unserem Verhalten weisen auf die Macht dieser Gesetzmässigkeiten hin.

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Klischees sind, auch in der Musik, als Basis des gegenseitigen Verstehens unverzichtbar. Wenn sie aber unbewusst passieren, man ihnen als Musiker unterliegt, ohne sich ihrer bewusst zu sein, werden sie zu Leerstellen im musikalischen Geschehen und unterlaufen das Bemühen um Spannung, Komplexität und Originalität.

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Die im „Untergrund“ wirkenden und uns steuernden Gesetzmässigkeiten zu kennen und über sie verfügen zu können, mit ihnen zu spielen, macht den Musiker zum mündigen Handelnden und ist Voraussetzung dafür, dass etwas Anspruchsvolles (Kunst) entstehen kann.

     

9

Forschen, Entdecken

Wo ist Forschen und Entdecken von Nichtvorhersehbarem vergnüglicher und mit mehr Lust verbunden als beim Spiel, beim Experimentieren, beim Improvisieren?

Und wo lernt man regelmässig so viele neue Dinge kennen, durch welche Tätigkeit lassen sich so zentrale Erkenntnisse über den Gegenstand Musik gewinnen wie beim ernsthaft betriebenen Improvisieren?

Zur Ergänzung zwei Zitate:

 

Ich empfehle jedem die Öffnung innerer Falltüren, eine Reise in die Dichte der Dinge, eine Invasion an Eigenschaften, eine Revolution oder einen Umsturz, vergleichbar jenem, den der Pflug oder die Schaufel hervorrufen,wenn plötzlich und zum ersten Mal Millionen von Stückchen, Spreublättern, Wurzeln, Würmern und kleinen Tieren, die bisher verborgen waren, ans Tageslicht gebracht werden.

   
Francis Ponge
 

Einen höheren Ernst als das Leben hat das Spiel.

   
G. W. Fr. Hegel
     

10

Produkt, Zweck
Improvisieren ist in der Regel nicht auf ein bleibendes, handelbares Produkt ausgerichtet.
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Die Improvisation behält dadurch ihre Frische (falls sich die Improvisierenden nicht mit Klischees, selbstgebastelten oder übernommenen, begnügen). Die Gefahr des Erstarrens ist kleiner als bei bekannten und eingeübten Abläufen.

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Freies Improvisieren ist unter anderem ein wunderbares Training für Fexibilität und für die Fähigkeit, sich in unbekannten Prozessen zurechtzufinden;  – dann aber auch dafür, Wagnisse einzugehen, klare Statements abzugeben, selber und frei zu entscheiden und mit den Folgen seiner Entscheide umzugehen.

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Improvisieren als Trainingscamp für Freiheit, gegen das Manipuliertwerden von aussen, für mehr Mündigkeit?

     
 

Walter Fähndrich

     
     


Die Frage der Fehler in der Freien Improvisation

Besteht in der Freien Improvisation überhaupt die Möglichkeit, Fehler zu machen? Gibt es sozusagen tiefer liegende Ebenen, bestimmte allgemeine Voraussetzungen, übergeordnete Gebote, die für diese Art des Improvisierens unverzichtbar sind und bei deren Missachten offensichtliche und objektiv benennbare Fehler passieren (können)? Oder sind Urteile (Richtig, Falsch) nur möglich abhängig vom jeweiligen Kontext, etwa vom musikalischen Idiom, von den eigenen Intentionen oder vom Ort der Aufführung? Oder ist die Taxierung von irgend etwas als Fehler bei dieser „freien“ Form des Improvisierens grundsätzlich subjektiv, quasi Geschmacksache und folglich einer objektiven Bewertung entzogen?

     

Gegenstand meiner Erläuterungen zur Frage der Fehler ist die Freie Improvisation als künstlerische Form des Musikmachens. Als erstes weise ich kurz auf diejenigen Formen von Improvisation hin, um die es dabei nicht geht. Ich spreche nicht vom Improvisieren:

- als sogenanntem Selbsterfahrungstrip vor Publikum
- vom Improvisieren als emotionaler Nabelschau
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nicht vom blossen Spielen dessen, was man fühlt; vom Sichgehenlassen, vom Sichaustoben (was ja per definitionem Verlust der Kontrolle und damit auch der Freiheit und somit des Entscheidenkönnens bedeutet!)

- ich spreche auch nicht vom Improvisieren zwecks Darstellen momentanen Befindens.
     

All dies ist auf der Bühne, vor einem zahlenden Publikum, allein deshalb schon problematisch, weil es sich um private Dinge handelt, um Dinge, die meiner Meinung nach nicht von öffentlichem Interesse sind. – Das oft gehörte Urteil, Improvisation sei in erster Linie für die Machenden interessant, trifft dann sehr wohl zu, wenn die Leute auf der Bühne sich auf einen sogenannten Egotrip begeben oder sich selbst darstellen. (Dem berühmten, leider ziemlich generell gemeinten Diktum von Carl Dahlhaus: "Sich mit improvisierter Musik zu beschäftigen, lohnt sich nicht, da es sich um selbstgenügsames Tun handelt" ist bei dieser Art des Improvisierens zuzustimmen.) – Allerdings kann man nicht in Abrede stellen, dass es ein Pubikumssegment gibt, das, vermutlich aus voyeuristischen Gründen, in derartige Improvisations-Konzerte geht und sich an dieser Form von Exhibition ergötzt.

Die Gefühlsebene, das emotionale Bewegtsein, gefühlsmässiges Engagement sind in erster Linie Energie-Lieferanten und als solche natürlich unverzichtbar. Gefühle und momentanes Befinden fliessen, ob man will oder nicht, sowieso ein in das Spiel, man muss sie also nicht noch speziell thematisieren. Besser beraten ist man eher mit der Haltung von Gottfried Benn, der in seinem wunderbaren Vortrag Soll die Dichtung das Leben bessern?, den er 1955 am NDR gehalten hat, sagte: "Man muss das Material kalt halten." (eine Forderung, die beim Improvisieren in der Regel natürlich nicht so gut einzulösen ist wie beim Musikschreiben, da man unmittelbar physisch und psychisch eingebunden ist).

-

Selbstverständlich spreche ich auch nicht vom Improvisieren mit therapeutischer Zielsetzung. Diese widmet sich primär andern Ebenen des Umganges mit Tönen, des Musizierens; Improvisieren dient hier hauptsächlich andern Zwecken.

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Und ich spreche auch nicht vom Improvisieren mit politischer Zielsetzung, wie es beispielsweise für die Pioniere der improvisierten Musik Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechziger-Jahre teilweise notwendig war, um durch das Aufbrechen verkrusteter Hierarchien im Musikbetrieb überhaupt erst eine Plattform für diese neue Art des Musizierens errichten zu können. (Im Übrigen hat Freie Improvisation allein schon deshalb einen subversiven und damit politischen Aspekt, weil sie sich anmasst, sich nicht an irgendwelche von aussen an sie herangetragenen Regeln zu halten.)

- Ebenso wenig geht es um eine bestimmte Ästhetik, eine definierbare künstlerische Richtung, ein bestimmtes, benennbares Idiom.
   

Es geht also um Freie Improvisation als künstlerische Form des Musikmachens. Ich möchte kurz darlegen, was ich unter diesen beiden Begriffen verstehe:

Freie Improvisation meint hier einen in weitestem Sinn "kompositorischen" Prozess, bei dem im Prinzip in jedem Moment die Möglichkeit besteht, Entscheide in jede Richtung und frei von irgendwelchen Prädeterminationen zu treffen. Diese Freiheit bezieht sich auf das Fehlen jeder Art von Vorgaben, vor allem aber auf solche, die in den formalen Ablauf der entstehenden Musik eingreifen, wie z.B. Spielregeln, vorbestimmte Formen, geplante Gliederungen, grafische Notationen, dirigierte Improvisation, Rollen-spiele, aber auch Bilder als Inspirationsquelle, Gefühls-Darstellungen usw.

Freiheit hat dabei natürlich nichts mit Beliebigkeit zu tun, wie wir noch sehen werden, und zudem ist sie naturgemäss nur relativ; unter anderem deshalb, weil mit jedem Moment des Spielens das Beziehungsnetz innerhalb des entstehenden "Stückes" dichter wird und die Musik zunehmend das Diktat übernimmt. Diesem "innermusikalischen Diktat" zu folgen, haben die Spieler übrigens gerade durch das Fehlen formaler Vorgaben überhaupt erst die Möglichkeit. In wie grossem Mass sich diese "Unfreiheit" bemerkbar macht und wie stark die Musik das Agieren der Musiker bestimmt, ist sehr unterschiedlich und hängt von der Art der Musik ab, die am Entstehen ist; darauf werde ich noch zu sprechen kommen.

Eine der zentralen Qualitäten der Freien Improvisation ist für mich die Möglichkeit, die-jenige Musik zu spielen und vor allem zu hören, die ich im Augenblick möchte, mich in gewissem Sinn also auszuleben (um einen Begriff von Villem Flussèr zu gebrauchen, der das Sichausleben streng vom Sichgehenlassen unterscheidet). Was das im einzelnen für Musik ist, liegt meist nicht schon zu Beginn fest, sondern entscheidet sich oft erst während des Spielens und hängt sehr von der jeweils aktuellen Situation und den momentanen Konditionen ab. Auch können die Intentionen im Laufe eines Stückes freiwillig oder erzwungenermassen ändern, vor allem dann, wenn man nicht allein improvisiert. In der Gruppen-Situation wird diese Einschränkung der Freiheit jedoch dadurch wettgemacht, dass ich meine Position zu etwas mir Begegnendem selber bestimmen und auch ändern kann. So hat gewissermassen jeder Beteiligte permanent die Hand am Steuer und bestimmt die "Fahrtrichtung" in hohem Mass mit.

Nicht trennbar von diesen Aspekten und wichtig als Voraussetzung für das Entstehen der absolut unabdingbaren Spiellust ist auch die Freiheit, kein reproduzierbares Werk hinterlassen zu müssen, – somit die Musik ganz grundsätzlich immer wieder neu erfinden und diese spannende Entdeckungsreise immer wieder von Neuem aufnehmen zu können. Unausweichliche Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit sind in diesem Fall kein Mangel, sondern Chance und Vorzug.

Improvisation also verstanden als "kompositorischer" Prozess gleichberechtigter, die ganze Verantwortung tragender Spieler, in dessen Zentrum ein mit grosser Spiellust realisiertes, unvorhersehbares und doch möglichst überzeugendes Resultat steht.

 

Diese künstlerische Form des Musikmachens zielt auf ein Resultat, das im Prinzip auch nach mehrmaligem Hören noch überzeugt; etwas, das man wegen seiner inneren Folgerichtigkeit und Geschlossenheit durchaus Werk nennen könnte, und das in besonders geglückten Fällen Kunst ist.

Selbstverständlich ist dieser Begriff von Werk sehr weit gefasst und beschränkt sich nicht auf etwas in sich Geschlossenes im Sinne etwa von prägnanter Gestalt oder auf bestimmte Arten von Gliederung. Vielmehr ist etwas gemeint, das einen starken Eindruck hinterlässt, das als Ganzes, auch wenn es in hohem Masse prozesshaft bleibt, zur prägnanten Erfahrung wird, die erinnert wird, und die auf irgendeine Weise beunruhigt. Beunruhigt, weil es als "Werk" ausschliesslich sich selbst verpflichtet ist, eigenen Gesetzmässigkeiten gehorcht und im Idealfall eine absolute innere Folgerichtigkeit hat, sich dadurch natürlich auch nicht anbiedert oder sonstwie auf Gefallen aus ist; – beunruhigt, wenn das Gehörte keine Kopie von Bekanntem ist, folglich unsere Erfahrungen und Erwartungen unterläuft und so unsere Wahrnehmung irritiert; – beunruhigt auch, weil es uns Neues erfahren lässt, uns gar zu Neuem zwingt. – Kunst hat mit Erkenntnis zu tun.

Luciano Fabbro hat dies in seinem Buch Kunst wird wieder Kunst so formuliert:

"... Das Kunstwerk erweckt das Denken zum Leben, über die Empfindungen hinaus; mehr noch: Seine Qualität, die ich für evident erachte, besteht darin, dass es die Empfindungen in die Gedanken zwingt, so weit, dass die Empfindungen selbst verfälscht werden; es verwandelt Flecken in Sedimente; in Literatur, Poesie; aus Öl, Erde, Stein werden Körper, Himmel, Räume. Andernfalls würde es sich nicht von einer Suppe oder einem Parfüm unterscheiden. Sagen wir lieber: Es befreit den Gedanken."

Wie wir wissen, gesteht man Kunstcharakter in der Musik eigentlich nur Werken zu, die festgehalten sind; sei es in Form von Noten oder andern schriftlichen Verfahren, sei es auf elektronischen Medien als Resultat von Produktionen im Elektronischen Studio oder in Form von Montagen, – und fast immer meint man damit Komponiertes.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass der Improvisation vieles verschlossen bleibt, was die Komposition leisten kann. Das betrifft vor allem fast alle Ebenen von gesteuerter, hochgradiger Komplexität auf struktureller und formaler Ebene. Allerdings nur fast, denn nicht für alle Eigenschaften des Klanges hat die Entwicklung der Notenschrift adäquate Mittel bereitgestellt. So fehlt uns zum Beispiel die Möglichkeit, Klänge in all ihren Differenzierungsmöglichkeiten zu notieren.
Dadurch, dass bei geschriebener Musik in der Regel das Notierbare im Zentrum des vom Komponisten Intendierten steht, eine werknahe Interpretation sich folglich um das möglichst adäquate in Klang setzen des schriftlich Formulierten zu bemühen hat, bleibt der klangliche Gestaltungsraum auf diesem Feld naturgemäss beschränkt. Hier sind die Möglichkeiten der Improvisation im Vergleich mit denen der Komposition weitaus grösser. Dazu kommen beim Improvisieren ganz selbstverständlich ein Mass an Frische, Intensität, energetischer Dichte, ein Sog, die dem Komponieren weitgehend ver-schlossen bleiben.
– Das allmähliche Verfertigen der musikalischen Gedanken während des Spielens, um ein Zitat von H. v. Kleist auf den Prozess des Entstehens von Musik umzubiegen, – die Freiheit, zusammen mit dem ihr verbündeten Zwang, Grenzen zu setzen, sich zu entscheiden, Überzeugendes zu gestalten, werden beim Improvisieren zur grundlegenden Qualität.
– Diese Qualität beschränkt sich im improvisierten Konzert nicht auf die Spieler. Sie bietet auch den Hörern einerseits die Sensation des aktuellen Mitdenkenkönnens und fordert andererseits eine andere Art von und einen hohen Grad an rezeptiver Anteilnahme.

 

Damit das Abenteuer Improvisieren auf der Bühne nicht in einem mehr oder weniger grossen Desaster endet, den Spielern das Vorhaben, spannende Musik zu kreieren misslingt und das Publikum sein bezahltes Eintrittsgeld zurückfordert, müssen eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein. Diese hängen in hohem Masse davon ab, was von den Spielern intendiert ist, und um welche Art von Musik es sich handelt – doch nicht nur! Trotz aller Freiheit und trotz des prinzipiellen Fehlens von einzuhaltenden Regeln gibt es ein paar Gebote, deren Nichteinhalten sich unweigerlich auf die Qualität des Resultats auswirkt.

Einige dieser Regeln betreffen nicht spezifisch die Musik, sondern sind sehr allgemeiner Natur; – es sind Kommunikationsregeln. Von diesen ist vielleicht die wichtigste, dass man die andern nicht niederschreit, sondern ebenfalls zu Wort kommen lässt. Für die Musik heisst das, Dinge nicht mit lautstarkem Agieren zuzudecken, da im Prinzip alles im Zusammenhang mit der sich entwickelnden Musik Hörbare Bestandteil von dieser ist. – Damit sind wir auch schon beim zweiten Gebot, nämlich bei dem des Zuhörens, das heisst, darauf zu hören, was die andern zu sagen haben. Dies allein schon deshalb, um den Kontakt zur aktuell entstehenden Musik nicht zu verlieren. (Allerdings gibt es Ausnahmen, wie wir später sehen werden.)
Als drittes, nicht weniger wichtiges Gebot, ist die Klarheit zu nennen. Nicht nur beim musikalischen Improvisieren, sondern vermutlich bei den meisten Formen von Kommunikation ist man verpflichtet, sich um grösstmögliche Klarheit zu bemühen, um Klarheit der Haltung als erstes, dann aber auch um Klarheit der Gedanken, der Wortwahl und der Äusserungsform. Wie wir alle immer wieder erfahren, ist es grundsätzlich viel einfacher, eine klare Position zu finden und zu vertreten, wenn man mit einer klaren Position, mit einem verbindlichen Gegenüber konfrontiert wird. Dieses Gebot der Klarheit gilt für die Musiker nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber dem Publikum; was man in den Raum setzt, sollte musikalisch so klar sein wie möglich. (Im Übrigen ist Klarheit, ganz allgemein, Merkmal und unabdingbare Voraussetzung für Qualität.)

Das Einhalten dieser Regeln ist im Zusammenhang mit der musikalischen Improvisation oder mit Kunst selbstverständlich nicht aus Gründen des Anstandes oder aus gruppendynamischen Überlegungen heraus wichtig, sondern dient einzig und allein der Sache, der Musik, die hier und jetzt in Szene gesetzt wird.
Mit dem Ziel, möglichst überzeugende Musik entstehen zu lassen und zu bauen, sind ein paar weitere unabdingbare Voraussetzungen verbunden. Man könnte diese zusammenfassend so formulieren: Alles, was man tut, muss man uneingeschränkt im Dienste des entstehenden Stückes tun.

Dazu gehört eine grundsätzliche Integrität im Hinblick auf das Aufbauen eines gemeinsamen Klang- oder Gestaltungsraumes. Dieser ist eine der zentralen Voraussetzungen dafür, dass die telepathischen Grundkräfte, wie sie Derek Bailey nennt, wirksam werden können. Dies beinhaltet auch ein gewisses Mass an Selbstlosigkeit, die ausschliesst, dass man zulasten der Andern brillieren will, zum Beispiel mit irgendwelchen spektakulären Kunststückchen auf dem Instrument.
Je stärker und energiegeladener und dadurch weiter gespannt ein gemeinsamer Klangraum ist, desto mehr Platz bietet sich für Risikobereitschaft, – auch eine der essenziellen Voraussetzungen, denn sie ist ebenfalls ein wichtiger Energie-Lieferant und einer der Garanten dafür, dass man nicht an Klischees haften bleibt.
Zu dieser Integrität gehört auch das Imstücksein; – dies auch dann, wenn ich gerade nicht spiele, denn auch während des Pausierens ist meine Energie, die aus fokussierter Aufmerksamkeit und aus dem Mitdenken resultiert, wichtig für den Spannungsraum der Musik.
Zudem muss ich, um meine musikalischen Interventionen präzise platzieren zu können, in jedem Moment auf dem aktuellen Stand sein bezüglich Energiestatus, die energetischen Verläufe, die Spannungsperspektiven und die ablaufenden Prozesse. Das Wissen darum und die Erfahrung, dass jeder der Mitspieler eine grosse Präsenz mitbringt und seine musikalischen Aktionen vollständig und bedingungslos in den Dienst der gerade entstehenden Musik stellt, ist das einzige Netz, die einzige Sicherheit, die es beim Freien Improvisieren gibt.
Dieses Netz bewahrt weitgehend vor wirklichen Abstürzen, weil – wenn ich mich einmal verstiegen, verspekuliert habe – Hilfe von anderer Seite kommt, indem ein Mitspieler zum Beispiel etwas von der musikalischen Funktion übernimmt, die meine Ebene hat, oder indem er eine andere geeignete musikalische Massnahme trifft. Diese Form von Sicherheit verleiht jedem Spieler die notwendige Bewegungsfreiheit, die es erlaubt, sich erfolgreich auf die Suche nach Ungehörtem, Überraschendem zu begeben und unkonventionelle Lösungen zu finden.

 

Neben diesen mehr allgemeinen Voraussetzungen, die sich vor allem auf grundsätzliche Fragen der Haltung beim Improvisieren beziehen, gibt es auch ein paar explizit musikalische Gebote, deren Nichtbeachten die Qualität der Musik mindern oder gar verunmöglichen.

Die meisten dieser Gebote sind spezifisch und abhängig von der Art der Musik, die entstehen soll, Gebote also, die sich aus den Intentionen der Spieler ergeben. Dazu zählen bestimmte handwerkliche Fähigkeiten, die man allgemein als instrumentale Fitness bezeichnen könnte.
Wenn ich zum Beispiel mit differenzierten Tonhöhen arbeiten will, muss ich in dieser Beziehung mehr oder weniger sattelfest sein, intonationssicher. Denn irgendwelche Trübungen der Tonhöhen oder Mikrotöne sollten in diesem Fall nicht aus Unvermögen passieren, sondern gewollt sein, oder zumindest unter meiner technischen und gestalterischen Kontrolle stehen. Analog verhält es sich mit rhythmischen Strukturen. Sofern ich präzise mit differenzierten Tonlängen arbeiten will, muss ich unter anderem metrumfest sein. – Das lässt sich auf fast alle musikalischen Parameter ausdehnen. Denn alles, was nicht gewollt geschieht, ist ein potenzieller Fehler.
Einschränkend muss man dazu allerdings sagen, dass ein Fehler, der nicht zu gravierend ist, ein Stück nicht kapputt macht, genauso wie die Qualität der Interpretation einer Mozartsonate durch einen Fehlgriff nicht nachhaltig beeinträchtigt wird. – Zu weiteren spezifischen Anforderungen werden wir gleich kommen.

Nebst den genannten, an der intendierten Musik zu messenden Voraussetzungen lassen sich aber doch ein paar allgemeiner gültige Kriterien formulieren. Zum Beispiel das Hören. – Möglichst alles hören, was musikalisch geschieht.
Selbstverständlich kann sich beim Improvisieren niemand auf alles gleichermassen konzentrieren, alle Aspekte wahrnehmen und alles unter Kontrolle halten; das ist auch nicht gefragt, weil eine gleich grosse Aufmerksamkeit auf alles musikalisch keinen Sinn macht. In den verschiedenen Entwicklungs-Phasen stehen einzelne Aspekte des musikalischen Geschehens vor anderen im Zentrum der Aufmerksamkeit und der Intention, weil sie unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen in materialtechnischer, struktureller oder formaler Hinsicht haben und deshalb für den Prozess des "Bauens" und für das Resultat wichtiger sind.

Dieses Gebot des Hörens bezieht sich deshalb auf einen besonders zentralen Aspekt improvisatorischer Kompetenz: Das strukturelle und formale Potenzial des aktuellen Materials (und zwar des eigenen und desjenigen der Mitspieler, und das möglichst umfassend), das Potenzial des momentanen Geschehens in jeder Phase erkennen zu können und darauf basierend Position zu beziehen, will sagen, musikalisch klare Entscheide zu treffen.
Dazu gehört, Wesentliches von weniger Wichtigem zu unterscheiden, Nichtzentrales zum Beispiel einfach "mitzunehmen", es quasi am Rand der Fokussion zu belassen, um ihm später vielleicht einen andern Rang zu geben oder es an einen andern Platz der musikalischen Beachtung zu verschieben, es zu verändern oder es vielleicht auch ganz fallen zu lassen, wenn es keine Bedeutung mehr hat.
Zu dieser grundsätzlichen Aufmerksamkeit gehört auch das Erkennen und Respektieren des Bewegungs- und Gestaltungsraumes, des Bauplatzes der Mitspieler. Ein häufig zu beobachtendes Phänomen ist das Verhalten des Imitierens oder des Sichaneignens des Materials eines Mitspielers. Natürlich ist das nicht verboten, doch wenn ich das mache, muss mir bewusst sein, dass ich damit den Bewegungsraum meines Kol-legen einschränke, ihm unter Umständen sein Baumaterial entwende und ihm die Möglichkeit nehme, seine Aussage so zu gestalten, wie er es eigentlich vorsah. – Dafür muss ich im Rahmen des Stückes die Verantwortung übernehmen.

Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Orientierungsfähigkeit im laufenden Stück; zum Beispiel eine Vorstellung davon zu haben, wo innerhalb der Stückproportionen man sich befindet oder befinden könnte. Das heisst vor allem zu wissen, was bis jetzt abgelaufen ist, aber auch zu ahnen, was sich anbahnt – dies natürlich mehr oder weniger spekulativ, ohne genau zu wissen, was noch kommen wird – und wohin die Spannungsperspektive weisen könnte, – wann sich ein Material erschöpft hat. Dann aber auch ganz zentral, welches die "bautechnische" Funktion meiner musikalischen Ebene ist, um die entsprechende Verantwortung im Rahmen des entstehenden Stückes übernehmen zu können. Dies beinhaltet, nicht zu vergessen, was man selber bis zum aktuellen Zeitpunkt gespielt hat, um sich nicht zu verlieren.
Es gibt Improvisatoren, deren Trachten genau in die Gegenrichtung läuft: Sie fordern laufendes Vergessen des Gespielten, um permanent frisch und von formalen Intentionen frei zu bleiben, um einen möglichst totalen Zustand von Nichtvorhersehbarkeit zu erzeugen und nicht berechenbar zu sein. – Doch, ist der Eindruck von Zufälligkeit überhaupt improvisierbar? Oder braucht es nicht vielmehr eine umsichtige Strategie, um Zusammenhang zu vermeiden? – Und wie ist es mit der Wiederholung, die sich automatisch einstellt, wenn man nicht bewusst auf ihre Vermeidung achtet, wenn man vergisst?

Ein weiterer Aspekt betrifft das Klischee, und zwar die eigenen Stereotypien und solche der Gruppe. – Klischees entwickeln sich immer und automatisch; sie sind für jede Form von Kommunikation wichtig, denn ohne sie gibt es kein Verstehen, keine Orientierung. Auch machen sie einen wichtigen Teil des Repertoires, des instrumentalen und musikalischen Wortschatzes aus. – Wichtig ist, dass sie nicht einfach passieren, ohne dass man sich ihrer bewusst ist, weil in diesem Fall das improvisatorische Geschehen sehr schnell seine Unberechenbarkeit und die Musik dadurch ihre Spannung verliert. Kritische Selbstbeobachtung hilft verhindern, dass ich mich eines Tages an einem Punkt befinde, der nurmehr aus Gemeinplätzen besteht und der seiner ganzen Frische verlustig gegangen ist.

 

Ich versuche abschliessend, kurz auf ein paar voneinander unterscheidbare musikalische Ziele von freiem Improvisieren einzugehen. Zwischen den fünf Feldern gibt es teilweise Gemeinsamkeiten, teils unterscheiden sie sich grundsätzlich voneinander. Zudem hat die Einteilung nicht den Anspruch, systematisch oder vollständig zu sein. Dazwischen ist viel Platz für Anderes und auch für Mischformen. Als Orientierungshilfe möge die folgende Auflistung ihre Berechtigung haben.

Musik als Raum

Hier ist die Zeit nicht in erster Linie Gestaltungsebene, sondern hauptsächlich oder gar ausschliesslich lediglich unverzichtbares Vehikel, um etwas zu transportieren, das essenziell ausserhalb der Zeit angesiedelt ist. Die Zeit dient dabei nicht vor allem dazu, musikalische Gedanken zu entwickeln, in gewissem Sinn etwas zu erzählen, bei dem Vorher und Nachher in zwingender Abfolge stehen und das seinen Sinn erst durch eine sich auf der Zeitachse formende Dramaturgie findet. Im Gegenteil, die Funktion dieser Art von Musik besteht oft explizit darin, die Zeit zu überwinden, sie anzuhalten oder sich sogar "aus der Zeit hinaus zu begeben". Es ist eine Art von Musik, bei der man ganz bewusst nicht das Ziel hat, eine komplexe Form zu bauen; es finden keine grossräumigen Entwicklungen statt und es gibt auch keine spannungsmässigen oder formalen Höhepunkte. Diese Musik ist im eigentlichen Sinn modal strukturiert, das heisst, Vorher und Nachher sind grundsätzlich austauschbar.
In aller Regel ist die Intention dieser Musik, Räume zu evozieren und/oder innermusikalische Räume zu bauen. Man könnte solche Musik als Hörraum bezeichnen, als Hörangebot, in dem man sich virtuell bewegt und in dem man sich aus den Klängen seine Gestalten und Zusammenhänge schafft. – Ein musikalischer Raum, den man entdeckt und erforscht, den man als Hörer quasi miterfindet und der zum Kommunikations-Partner wird.

Hier gilt es für die Musiker, den musikalischen Raum weit gespannt zu halten und ihm jederzeit das richtige Mass an Energie zuzuführen, damit er nicht kollabiert. Das kann sehr leicht passieren, weil es keine Entwicklungsrichtung und damit auch kaum eine in die Zukunft gerichtete Erwartungshaltung gibt. – Die Spannung in diesem statischen Geschehen nährt sich vor allem durch die Unberechenbarkeit der kleinen und kleinsten Details, aus denen das sparsame oder auch dichte Gewebe besteht. – Diese Musik ist das Terrain der ganz kleinen Gestalten, hier ist der Klang mit all seinen Farben und Schattierungen zu Hause.

Reihung

Das Aneinanderreihen von „Stücken“ ist vermutlich die am meisten verbreitete und praktizierte Form des Improvisierens in der Gruppe. Die Abfolge einzelner Bögen - meist sind sie einteilig - ist das, was automatisch und klischeehaft entsteht, wenn kein Wille zu formalem Bauen und zu formaler Schlüssigkeit das Spiel bestimmt. Solche Abläufe kranken häufig an zwei Merkmalen:
Zum einen besteht zwischen den einzelnen Stücken oder Verdichtungen häufig kein (materialmässiger) Zusammenhang. Mit zunehmender Dauer des Spielens verblasst oder verschwindet die Erinnerung daran, was in den vorherigen Teilen geschah. Formale Orientierung wird so für die Spieler und für die Zuhörer schwierig. Das Resultat ist in der Regel eine Abfolge von Dingen, die in sich manchmal schön und spannend sind, die aber mehr oder weniger zusammenhangslos nebeneinander stehen. Zum zweiten ist die Gefahr sehr gross, dass die am Ende der einzelnen Teile oder Bögen abfallende Spannung nicht aufgefangen wird. Zwischen den einzelnen Teilen stellt sich in diesem Fall eine Übergangssituation ein, während der die Spieler versuchen, sich neu zu orientieren und etwas Neues aufzubauen. Dieser Übergang dient dann quasi als Verschnaufpause und wird zur zweitrangigen Situation, zur Nebensache, zwischen zwei Hauptsachen.
Wenn hingegen solches Improvisieren gelingt, – die Spieler sich der oben genannten Gefahren also bewusst und in der Lage sind, langfristig die Spannung aufrecht zu erhalten – können mit dieser Spielhaltung reiche und sehr spannende musikalische Reisen entstehen. Reisen, bestehend aus Abfolgen und Ansammlungen von Gesten, Verdichtungen, Brüchen, Pulsationen, musikalischen Räumen, die die Spieler und die Zuhörer in unerhörte Gegenden führen können.
Diese Form des Improvisierens zeichnet sich durch das Fehlen von grossformaler Berechenbarkeit aus. Formale Verbindlichkeiten gibt es nur über kurze Strecken, und auch sie bewegen sich auf schwankendem Terrain. Umso wichtiger für das Gelingen sind hier: grösste Konzentration, eine hohe Bühnenpräsenz und musikalische Übersicht.

Formales Bauen

Hier ist das Ziel der Spieler, gemeinsam geschlossene, in sich möglichst folgerichtige Stücke zu "bauen". Die Spannweite reicht von grossen, auch abendfüllenden Gebilden bis zur Abfolge von winzigen Miniaturen, die sich zu grossen Bögen fügen. Die Musik lebt und wird getragen von allgemeinem Vorwärtsstreben und von grossräumigen Bezügen – formale Erwartungen werden erzeugt. Dieses formale Gestalten hat in der Regel nicht das Ziel, sich mit bestehenden, benennbaren Formen zu beschäftigen. Das Spannende bei solchen improvisatorischen Prozessen ist vielmehr der Versuch, in jeder Phase zu erkennen, wohin die Musik will, was für innere Gesetzmässigkeiten sich entwickeln, was im entstehenden Stück möglich, sinnvoll, interessant und wünschbar ist. Formale Orientierung ist gefragt, denn in den Vordergrund treten bei dieser Musik Aspekte der formalen Balance, der Gliederungen und der ausgewogenen Proportionen, aber auch die der weitergreifenden Entwicklungen und der dramaturgischen Gestaltung.

Bei dieser Form des Improvisierens ist die Gefahr des Produzierens von Klischees vermutlich am grössten. Das Sichlösen von dem, was man im Laufe der musikalischen Erziehung als Form zu betrachten gelernt hat, braucht und beinhaltet ein gewisses Mass an anarchistischer Energie.

Polyphonie

Polyphonie als Gleichzeitigkeit von mehr oder weniger gleichwertigen Abläufen, als gleichzeitige Anwesenheit von selbständigen und weitgehend voneinander unabhängigen musikalischen Ebenen.
In diese Kategorie möchte ich alles Musizieren setzen, bei dem die Mitspieler auf den Ebenen des Materials und der strukturellen Merkmale nicht oder nur am Rand aufeinander reagieren. Auch folgen die einzelnen Spannungsbögen häufig individuellen Perspektiven.
Die Qualität der Resultate dieser Form des Improvisierens steht und fällt mit der Stabilität, der Klarheit und der Entschiedenheit der einzelnen Linien. Denn nur eine grosse und fraglose Selbstverständlichkeit des eigenen musikalischen Umfeldes ermöglicht es dem Spieler, klar zu sein, Entscheide so frei wie möglich zu treffen und den Gestaltungsraum über lange Zeit offen und gespannt zu halten. – Jede Unsicherheit zieht den Andern Energie ab und bringt das komplexe Gebäude ins Wanken.

Eine Extremform dieser Kategorie möchte ich noch erwähnen, weil hier viele der Regeln, die ich formuliert habe, ausser Kraft gesetzt sind: Es ist das Improvisieren mit dem expliziten Gebot, unter keinen Umständen aufeinander zu reagieren, das heisst, sich in keiner Weise von irgend etwas, was die andern machen, beeinflussen zu lassen. Das Resultat dieser Form des Improvisierens ist radikale Polyphonie.
Allerdings ist es enorm schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, gleichzeitig mit Andern zu improvisieren, ohne sich beeinflussen zu lassen. Eine Möglichkeit, sich von essenziellen "Fremdeinflüssen" frei zu halten, ist, für sich vorgängig einen verbindichen Plan zu erstellen. Dieser Plan sollte die zentralen, identitätsstiftenden Eigenschaften der eigenen musikalischen Ebene umfassen und konsequent eingehalten werden. – Die einzelnen Spieler improvisieren dabei zwar nicht mehr frei, doch wird das Resultat vielleicht noch weniger vorhersehbar als bei freiem Spielen.

Improvisieren als Forschungsprojekt, als Entdeckungsfahrt

Praktische musikalische Forschung ist improvisierend auf vielen Gebieten möglich und interessant, und auch notwendig. Ohne mehr oder weniger permanentes Forschen bleibt man bei seinem gewohnten Repertoire stehen, was Verlust der Frische und Originalität bedeutet.

Forschung kann man in vielerlei Richtungen betreiben:
- zum Gegenstand Musik ganz generell
- Im Hinblick auf die Wahrnehmungsmechanismen
-

zur allgemeinen und/oder spontanen musikalischen Kommunikation (etwa auf der Ebene der Klänge, Prozesse, energetischen Zustände und Verläufe u.a.)

-

zur Frage der möglichen Orientierungsverfahren

- zur musikalischen Struktur- und Formbildung
- zum Material: Was ist das? Was taugt dazu?

usw.

Eine solche Forschungstätigkeit ist auf der Bühne, vor Publikum aber nur zumutbar, wenn die Spieler bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Die wichtigsten sind auch hier:

- Erfahrung
- absolute Konzentration auf die Sache
-

handwerkliches Können

-

Übersicht

-

hoch entwickelte Hörfähigkeiten

- Aufrechterhalten von Spannung
-

Raumpräsenz

   
Brissago, 2007
Walter Fähndrich
   
   

 

Zur Frage des Klischees in der Freien Improvisation

 

Die Frage des Klischees ist ein höchst komplexes Thema. Ein ganzer Katalog von Fragen drängt sich auf. Einige Stichworte dazu:

Banalität – Originalität – Kreativität – Kitsch – Schema – Kontrolle – Information /
Redundanz – Geschmack.

Ab wann kann man von Klischee sprechen? Für wen ist ein Klischee ein solches?

Wiederholung: Wiederholung in zweifacher Hinsicht: 1. Alles war schon da! 2. Beim Spielen wird vorher Erklungenes wieder aufgegriffen. Wiederholung ist zweifellos der wichtigste Begriff zum Thema Klischee. Der scheinbar simple Begriff ist aber nicht so klar zu definieren, wie es auf Anhieb scheint. Er ist kaum einzugrenzen und es ist schwierig, ihn auf schlüssige Weise zu definieren: Wann ist eine Wiederholung eine solche? Wieviel einer Geste muss und welche Parameter müssen wiederholt werden, damit etwas als Wiederholung bezeichnet werden kann oder als Wiederholung empfunden wird? Gehört zum Beispiel assoziatives Erinnern in einem ablaufenden musikalischen Prozess auch schon dazu?

Die Vielfalt der Komponenten und Aspekte in musikalischen Prozessen, die Komplexität des Geschehens, bedingt durch das Zusammenwirken einer grossen Anzahl beteiligter Parameter, machen die Wiederholung zu einem sehr dehnbaren Gegenstand. Ich werde später nochmal darauf zu sprechen kommen.

In diesem Beitrag soll jedoch nicht auf systematische Fragen eingegangen werden wie: Was ist ein Klischee? oder: Was ist die Bedeutung von Klischees, z. B. für die verschiedenen Formen von Kommunikation? oder: Unter welchen Umständen und wie weit sind Klischees für eine Verständigung notwendig? oder: In welchem Umfang enthalten bereits syntaktische Regeln Klischeepotential? Diese Diskussion erforderte einerseits mehr Raum, als hier zur Verfügung steht und anderseits sind diese Fragen in den verschiedensten Zusammenhängen bereits ausgiebig diskutiert und beschrieben worden.


Ich möchte vielmehr ein paar grundsätzlichen und praktischen Überlegungen zum Entstehen und zum Vermeiden von Klischees in der Freien musikalischen Improvisation nachgehen. – Freie Improvisation soll hier nicht verstanden werden als selbstgenügsames Tun oder als Forum für Beliebigkeit, sondern als künstlerische Form des Musikmachens mit dem Anspruch, auch vor Publikum Musik zu bauen, die in sich folgerichtig, spannend und überraschend ist, und die ihre Frische und ihre anderen Qualitäten auch nach mehrmaligem Hören nicht verliert. Improvisieren im hier gemeinten Sinn enthält die Intention, musikalische Kunst zu schaffen, die sich vom Qualitätsanspruch her nicht von komponierter Musik unterscheidet.


Klischee wird in diesem Beitrag als negativ konnotierter Begriff verwendet, der vor allem das unreflektierte Produzieren von bekannten und im aktuellen Kontext zu erwartenden Gesten meint; er umfasst stereotype musikalische Verhaltensweisen und Reaktionen, denen man als Musiker zu unterliegen droht, ohne sich ihrer bewusst zu sein. Unbewusste Automatismen werden meist zu Leerstellen im musikalischen Geschehen und unterlaufen das Bemühen um Spannung, Komplexität und Originalität; denn das unbewusst verwendete Klischee ist der natürliche Feind von Spannung und künstlerischer Information.

Die Gefahr, Klischees zu produzieren, ist beim Improvisieren, vor allem beim Freien Improvisieren, grösser als bei andern Formen des Musikmachens. Ein Grund dafür ist, dass oft sehr schnell reagiert werden muss, dass reflexartig Entscheide gefällt werden und dass folglich nicht umsichtig geplant werden kann. Ein anderer Grund ist, dass es schwierig ist, auf so viele Dinge gleichzeitig zu fokussieren, wie sie beim Improvisieren anfallen. Die Beteiligten müssen beim Spielen vor allem folgenden Aspekten permanent grösste Aufmerksamkeit schenken:

  1. Die Energie und Spannung aufrecht zu erhalten.
  2. Dem Material: Seinem Potenzial, seiner Flexibilität und Transformierbarkeit, aber auch seiner Erschöpfung.
  3. Der Klarheit und Entschiedenheit der musikalischen Ideen und ihrer Realisierung. Der Wahrnehmung der aktuellen (strukturellen, formalen, energetischen ) Prozesse.
  4. Der strukturellen und formalen Bedeutung seiner eigenen musikalischen Ebene im Verhältnis zum Ganzen im Moment und im Hinblick auf den weiteren Verlauf.
  5. Der Uebersicht über die Form – was ist bis jetzt gelaufen; wo befinde ich mich, wo befinden wir uns aktuell; was bahnt sich an, wohin könnte die Reise gehen?

Die Verlockung, sich angesichts der Komplexität improvisatorischer Prozesse auf automatisierte Gesten zu verlassen, auf Bewährtes zu vertrauen oder den Focus lediglich auf einzelne Komponenten zu richten, ist gross. Gross ist dann aber auch die Gefahr, Klischees zu produzieren. Musikalische Prozesse – strukturelle, formale, energetische, Zusammenhang stiftende – unterliegen einer Reihe von teilweise fundamentalen und häufig nicht zu umgehenden Gesetzmässigkeiten. Oft sind es archetypische Regulative, vor allem physische und emotionale, die uns beim musikalischen Improvisieren und bei andern spontanen Handlungen steuern. Diese haben meist einen energetischen Ursprung – etwa Spannung / Entspannung, Einatmen / Ausatmen, die Schwerkraft – und viele scheinen nicht nur überkulturell wirksam zu sein, sondern nebst uns Menschen auch andere höher entwickelte Lebewesen zu beeinflussen und bestimmen. Nehmen wir als Beispiel die Katzen: Wenn eine Katze sich streckt, ist ihr Bewegungsablauf ähnlich wie bei uns: Das Strecken, Spannen erfolgt langsam, die Entspannung danach zügig und in viel kürzerer Zeit als das Anspannen. Oder: Wenn sie sich wohl fühlt, etwa, wenn sie zärtlich gekrault wird, reisst sie ebenso wenig die Augen auf wie wir, wenn wir uns wohl fühlen. Wie wir macht sie eher das Gegenteil, nämlich die Augen tendenziell schliessen oder sanft blinzeln. Genauso wie wir reagiert eine Katze bei unfreundlicher Rede in erster Linie auf den Tonfall, – wenn wir sie anzischen, auch mit noch so netten Worten, verzieht sie sich. Anderseits können wir ihr in sanftem Tonfall drohen, ihr den Kopf umzudrehen, trotzdem fasst sie Vertrauen. Die energetische "Verpackung" dessen, was man sagt, ist wichtiger als der Inhalt. C'est le ton qui fait la musique.

Auch beim Musizieren sind solche Automatismen zu beobachten, und wie schon erwähnt, sind diese meist energetischer Natur. Einer der häufigsten ist das reflexartige, automatische Koppeln von verschiedenen Parametern, das heisst, die gleichzeitige Zu- oder Abnahme von Energie auf verschiedenen Ebenen. Einige Beispiele, die Allen, die sich musizierenderweise mit energetischen Fragen beschäftigt haben, bekannt sein dürften:

  • Aufsteigende melodische Linien gehen, sofern wir nicht bewusst etwas dagegen tun, automatisch mit einem Crescendo einher.
  • Um ein Ritardando mit einem Crescendo zu verbinden, müssen wir auf der Ebene der Dynamik bewusst Energie mobilisieren.
  • Ebenso "natürlicherweise" werden wir bei einer Tempozunahme lauter, sofern wir nicht bewusst Gegensteuer geben.
  • Abphrasieren koppeln wir automatisch mit Ausatmen (was die Gefahr in sich birgt, dass man zu viel Spannung verliert. Abhilfe kann in diesem Fall zum Beispiel "gegenläufiges" Atmen bieten: ins Abphrasieren hinein einatmen und in den Anfang der nächsten Phrase hinein ausatmen. So bleibt der Bogen und die Spannung eher erhalten.
  • Für Bläser gilt diese Handhabung des Atems natürlich nur in übertragenem Sinn).
  • Auch bei einer schärfer, prägnanter werdenden Artikulation besteht die Tendenz, dass sie mit einem Crescendo gekoppelt wird.
  • Und so fort…

All diese Koppelungen sind natürlich nicht einfach falsch, im Gegenteil, oft machen sie musikalisch ausgesprochen Sinn, z. B. weil eine dramaturgische Steigerung auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig mehr Kraft hat. Wenn solche Koppelungen jedoch unbewusst passieren, geben wir einerseits ein Mittel aus der Hand, um Spannung und Erwartungen zu erzeugen, und anderseits schleichen sich auf diese Weise stereotype Reaktionen und klischeehaftes Verhalten ein.

Im Zusammenhang mit "naturgegebenen" Regulativen sind auch einige andere Phänomene (Wahrnehmungs-Phänomene), die uns bestimmen oder bestimmen können, interessant: So haben etwa musikalische Motive in aller Musik in der Regel eine Dauer von 1,5 - 3 Sekunden. Sobald wir versuchen, Motive zu bauen, die wesentlich über diese Dauer hinaus gehen, merken wir, dass das nicht funktioniert. Solch verlängerte Motive "zerfallen" in zwei oder mehr Teile; wir unterteilen sie automatisch in "handliche", leicht fassbare Elemente. Das weist daraufhin, dass unsere Zeitwahrnehmung anscheinend grundsätzlich gestalthaft ist, dass wir also prozesshafte Phänomene in kleine, überschaubare Einheiten gruppieren, die energetisch zur Geste verschmelzen.

Ein damit verwandtes Phänomen ist unsere Orientierungsfähigkeit bei sehr schnellen oder langsamen Tempi! Unsere Orientierungsfähigkeit hat auch hier ziemlich enge Grenzen: Wenn wir einen sehr schnellen Puls (etwa Sechzehntel ab M = 120 die Viertelnote) übernehmen wollen, so gelingt das nur, wenn wir ihn gliedern in z. B. 1 2 3 4 1 2 3 4 oder 1 2 3 1 2 3, also indem wir den Puls energetisch ordnen und Gestalten bilden.Ein ähnliches Problem stellt sich bei sehr langsamen Pulsen, beispielsweise bei einem Schlag pro 2 Sekunden; hier können wir sicher und präzise nur einsteigen, wenn wir den Puls innerlich unterteilen, ihn in ein bequem nachzuvollziehendes inneres Tempo gliedern und so wiederum Gestalten bilden.

(In diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung interessant, dass wir uns ein Kontinuum nicht wirklich vorstellen können. Dies gilt nicht nur auf auditiver, sondern auch auf visueller Ebene: Es gelingt uns beispielsweise nicht, uns einen 100m langen Weg, auch wenn wir ihn tausendmal gegangen sind und ganz genau zu kennen glauben, als Kontinuum vorzustellen. Auch hier unterteilen, gliedern wir, was wir wegen Mangel an Struktur - ein Kontinuum ist per definitionem nicht gegliedert - nicht fassen können, indem wir in der Vorstellung von Punkt zu Punkt springen und in unserer Vorstellung Gestalten bilden.)

Die im „Untergrund“ wirkenden und uns steuernden Gesetzmässigkeiten zu erkennen, über sie zu verfügen und mit ihnen spielen zu können, macht den Musiker zum mündig Handelnden und ist eine der Voraussetzungen dafür, dass Anspruchsvolles und über Platitüden Hinausgehendes entstehen kann. Es gilt also, ein "Klischeebewusstsein" zu entwickeln. – Klischees sind nicht nur schon immer vorhanden, sondern entstehen beim Improvisieren auch immer wieder neu, und zwar als persönliche Klischees jedes einzelnen Musikers als auch solche der Gruppe als Ganzes.


Zu den virulentesten Klischeefallen beim Improvisieren gehören:

  • Das reflexartige gegenseitige Imitieren von Motiven, des Materials, der Gestik und Dynamik, der Bögen usw.;
  • stereotype Reaktionen in wiederkehrenden und deshalb vertrauten Situationen;
  • das Sich-gehen-lassen: Die Emotionen und der Körper (Motorik) allein produzieren ohne wache mentale Kontrolle meist nichts anderes als vertraute, automatisierte und stereotype Abläufe;
  • Zitate (unkritisch oder ohne musikalische Notwendigkeit gesetzte);
  • Wiederholungen in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. (Nicht nur das Imitieren, sondern auch reflexartiges Kontrastieren ist übrigens ein häufig zu beobachtendes klischeehaftes Verhalten in Improvisationen.)

Dialektisch gesehen lässt sich eigentlich alles auf die Wiederholung beziehen. Sie ist ganz allgemein und ohne Zweifel das wichtigste formbildende Element und in ihren verschiedenen Spielformen für die Formbildung weitgehend unverzichtbar. Einen Bezug zu einer Sache kann man auf vier voneinander unterscheidbare Weisen bewerkstelligen:

  1. Durch genaues Wiederholen von etwas Vorhergegangenem.
  2. Durch Ähnlichkeit (z.B. durch das Variieren einer Sache oder eines ihrer Parameter).
  3. Durch Anderssein (etwas ganz klar Anderes spielen, aber ohne die Bezugssache explizit kontrastieren zu wollen).
  4. Durch Kontrastieren (offensichtliches, bewusstes Kontrastieren einer Sache).


Alle diese musikalischen Verhaltensweisen bedingen das Erinnern an das, auf was Bezug genommen wird. Das "Gegenwärtighaben" der verschiedenen, in einem musikalischen Prozess sich in der Regel laufend mehrenden Bezugspunkte ist Bedingung für das Vermeiden stereotyper Reaktionen für bewusstes und umsichtiges Operieren.

Am wenigsten klischeegefährdet sind zweifellos das Variieren und das deutliche Abweichen, das Anderssein eines Materials oder einer Struktur. Sie geben beim Improvisieren in der Regel am meisten her, sind aber zugleich schwieriger zu handhaben als genaues Wiederholen oder Kontrastieren, da sie umsichtiges und eigenständiges musikalisches Denken erfordern.

Wie wir wissen, bereitet das Wiederholen eines gelungenen Einfalls aus verschiedenen Gründen oft viel Vergnügen. Doch lauert darin immer die Gefahr, dass das Vergnügen "kippt", dass die Intensität des Erlebens und die Spannung auch für den Zuhörer abnimmt und dass Langeweile oder Überdruss einkehrt, wenn zu oft wiederholt wird. Diese Grenze zum Zuviel ist während des engagierten Spiels aber leider nicht immer leicht zu orten. Das Variieren einer wiederholten Sache und deren Anreichern mit immer neuen Informationen sind mögliche Massnahmen für das Aufrechterhalten der Spannung.


Wie kann man sich nun übend auf nichtklischeehaftes Verhalten beim Improvisieren vorbereiten? Folgende fünf Übungsfelder bieten sich an, die allein und in der Gruppe geübt werden können. Sie helfen dabei, eine im Idealfall jederzeit abrufbare oder herstellbare Spielbereitschaft zu trainieren und weiterzuentwickeln:

  1. Musikalische "Ausdruckskerne" herstellen, d. h. so schnell wie möglich, am besten bereits mit dem ersten produzierten Klang, mit der ersten Geste eine bestimmte und klare musikalische Haltung einnehmen. Musikalische Orte, Räume zu erzeugen versuchen, diese entwickeln und sich darin auf verschiedene Arten bewegen. Wichtig ist dabei die Ganzheitlichkeit und die Echtheit der Intuition, des Erlebens (Ergriffenheit). Mit den energetischen Äusserungen und den erzeugten Klängen sollte man sich möglichst vollständig identifizieren, oder besser, man sollte das, was man musikalisch von sich gibt, sein. – Die das Geschehen begleitenden und kontrollierenden Gedanken dürfen dabei nie in das energetische Feld der Musik eindringen. Sie haben draussen zu bleiben und sollen das Geschehen lediglich von aussen beobachten und steuern. Nie aber sollte ein gedanklicher Entscheid umgesetzt werden, ohne dass die energetischen Ebenen - Emotion und Körper(-spannung) - den Entscheid "verstanden" haben und präzise realisieren können.
  2. Materialien, Strukturen und instrumentale Bewegungsformen entwickeln und trainieren, um ihre Handhabung technisch auf ein sicheres Niveau zu bringen. Bausteine und ihr Potenzial kennenlernen und mit ihnen vertraut werden, um frei zu werden im Umgang mit ihnen. Das hat nicht zuletzt natürlich viel mit instrumentaler Fitness zu tun. Wichtig ist bei dieser Art des Übens, Materialien zu finden oder zu wählen und kennen zu lernen, die flexibel und transformierbar sind. Jedes Material hat bekanntlich zentrale und periphere Eigenschaften. Die Bedeutung der einzelnen Aspekte eines Klanges oder einer Klangstruktur ändert sich beim Improvisieren oft kurzfristig. Welchen Parameter, welche Eigenschaft eines Klanges, einer Geste, einer Struktur ich ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit, meiner "bautechnischen Arbeit" stellen will, muss ich als Spieler immer wieder von Neuem und möglichst klar und bewusst entscheiden.
  3. Entscheide treffen und diese schnellstmöglich umsetzen lernen, ohne dass der energetische Bogen einen Bruch erlebt. Solche Entscheide können und sollen alle Ebenen musikalischen Agierens betreffen, so zum Beispiel die Tonhöhen, das Tempo, die Klangfarbe, Dynamik, Dichte, die Richtung von Prozessen, usw. Dabei ist es nützlich, einerseits das Entscheiden selber zu üben, d. h. irgendwelche Änderungen oder Neuigkeiten sich sofort und mit grösstmöglicher Klarheit vorzustellen. Anderseits sollte das unmittelbare und präzise Umsetzen von Entscheiden trainiert werden. Allerdings werden Alle, die improvisieren, die Erfahrung gemacht haben, dass sich klangliche Entscheide manchmal anders anhören, als sie zuvor gedacht waren. Das gehört natürlich zum Improvisieren. Das Sich-Zurechtfinden in überraschenden, nicht vorher gesehenen Situationen gehört deshalb genauso zum Traingsprogramm.
  4. Nie anders als wach und bewusst spielen / üben. Bewusstheit wird dabei selbstverständlich nicht als intellektuelle allein verstanden! Gemeint ist damit vielmehr die Gleichzeitigkeit und Verbindung von a) grösstmöglicher Wachheit des Geistes, b) der motorischen Bewegungstendenzen im locker(!) gespannten Körper und c) der Energie und Bewegung der Emotionen. Aus diesen drei Ebenen kann das entstehen, was wir Intuition nennen. Damit sich dieser Zustand einstellen kann, ist es wichtig, gleichzeitig locker und gespannt und hellwach zu sein. Die Entscheide während des Spielens sollten letztlich immer der Intuition, also dem feinen, austarierten Zusammenspiel von Gedanken, Emotionen und motorischen Tendenzen überlassen werden! Denn die Intuition ist nach meiner Erfahrung eine sehr treffsichere "Instanz" und hat (fast) immer recht. Die Sensibilität für intuitive Zustände und Richtungen kann man entwickeln und verfeinern. Auch kann diese Weise des Agierens und Reagierens praktisch geübt werden. Eine der Voraussetzungen dafür ist, dass nicht eine der drei Ebenen überhand nimmt und die andern zwei an den Rand drängt. Ähnlich einem Mobile, das sich im Wind bewegt und doch nie sein Gleichgewicht verliert, ist es das feine, sensible Zusammenspiel der Kräfte, das angestrebt werden sollte.
  5. Die Hörfähigkeiten trainieren und verbessern. Das bedeutet hier nicht Gehörbildung im akademischen Sinn (die allerdings auch für das Improvisieren wertvolle Dienste leisten kann). Vielmehr kann und soll man seine Hörfähigkeiten trainieren, indem man lernt, Klänge, Klanggebilde, Strukturen und musikalische Prozesse hörend zu erfassen und zu durchdringen.

Am besten beschränkt man sich dabei nicht auf eine Musikart allein, sondern beschäftigt sich mit ganz unterschiedlichen Formen und Stilen von Musik. Ob diese komponiert oder improvisiert ist, ist nicht so wichtig. Es geht vor allem darum, die in jedem Musikstück wirksamen Voraussetzungen (Materialien, Strukturen, Farben, Dichten, Bautechniken usw.), die ablaufenden Prozesse, die formbildenden Massnahmen, die Dramaturgie des Stückes und die vielen andern für den Bau von Musik wirksamen Dinge auseinander zu halten und das Potenzial der einzelnen Bausteine und deren Bedeutung für den aktuellen Moment und für die weitere Entwicklung zu erkennen und zu werten. Am besten bezieht man bei dieser Arbeit das "Analyse"-Instrumentarium in jedem einzelnen Fall aus dem aktuellen Musikstück selber und nimmt irgendwelche bekannten Modelle nur falls unbedingt nötig und wirklich zweckdienlich zur Hilfe. – Diese Form des aktiven Hörens kann und sollte man unbedingt auch während des Spielens / Übens trainieren! Wichtig ist dabei aber, dass man sich innerlich nicht vom energetischen Zentrum des Musizierens entfernt. Das umsichtige und aktive Sichorientieren in musikalischen Prozessen darf nicht dazu führen, dass man sich aus dem musikalischen Raum oder Kraftfeld wegbegibt, sondern soll helfen, diesen Raum gezielt aufrecht zu erhalten und musikalisch mündig (mit)zugestalten.

Als Strategien, Massnahmen gegen klischeehaftes Verhalten beim Spielen im Konzert bietet sich eine ganze Palette von Verhaltensweisen an. Die wichtigsten seien hier zum Abschluss stichwortartig aufgezählt:

  1. Waches, nachvollziehendes Hören des gesamten Geschehens.
  2. Genaues und möglichst umfassendes Erinnern des im Stück Vorangegangenen.
  3. Lust am Entdecken und am Ausprobieren (bereits naives aber waches Ausprobieren führt aus dem Stand der Naivität hinaus).
  4. Lust am Denken / Verstehen.
  5. Lust an der aktiven Teilnahme an energetischen Prozessen.
  6. Lust an der Teilhabe und am Sich-Orientieren in nicht prädeterminiertem Geschehen.
  7. Lustvolles Eingehen von Risiken.
  8. Lust auf Spannung (Spannung = Schwierigkeiten der internen Klischees, mit eintreffenden Reizen fertig zu werden, sie einzuteilen; Spannung als (graduelle) Nichtübereinstimmung der internen Modelle mit den eintreffenden Informationen – siehe Wiederholung).
  9. Sich (seiner Intuition) vor und während jeder Art von Musizieren folgende zwei Fragen stellen: a) Was will ich? b) Was möchte ich hören?
  10. Lust darauf, musikalischen Sinn zu erzeugen!


Ich möchte mit einem Zitat von Heiner Goebbels schliessen:

Es geht darum, Entfernungen zu bilden, die vom Hörer mit Gewinn zurückgelegt werden können, Brüche die überbrückt werden können. Das schliesst die Sehnsucht nach Identität, Kontinuität, Homogenität, Schönheit nicht aus; im Gegenteil, sie ist der Motor.

 
Walter Fähndrich